Heilen mit Tango ? Teil 3

Jüngste Erfahrungen haben mich dazu veranlasst, über einige Aspekte nachzudenken, die ich später glaubte als potenzielle Mediatoren für die heilende Wirkung des Tangos identifizieren zu können. Ich lernte sie in einem inspirierenden Workshop über Trauma Center Trauma Sensitive Yoga (TCTSY) kennen, das seit 2002 von Dave Emerson, Bessel van der Kolk und anderen entwickelt wurde (traumasensitiveyoga.com).

TCTSY ist die erste empirisch validierte, klinische Intervention auf Yoga-Basis für komplexe Traumata oder chronische, behandlungsresistente posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Die Methodik basiert auf zentralen Elementen des Hatha-Yoga, bei dem die Teilnehmer eine Reihe von Körperformen und Bewegungen einnehmen. Elemente des klassischen Hatha-Yoga werden modifiziert, um Erfahrungen der Selbstbestimmung zu maximieren und eine positivere Beziehung zum eigenen Körper zu fördern. TCTSY bietet den Teilnehmern die Möglichkeit, sich selbst wahrzunehmen, basierend auf einem gefühltem Verständnis ihres Körpers. Es hilft, sich der Geist-Körper-Beziehung bewusst zu werden, diese wiederherzustellen und Selbstregulationsfähigkeiten aufzubauen.

Klingt wie Tango für mich.

Drei Hauptaspekte sollen erklären, warum TCTSY bei der Behandlung von komplexen Traumata und PTBS wirkt. Diese Kernaspekte möchte ich zusammen mit einigen eigenen Gedanken und Hypothesen vorstellen:

Verbesserung der Interozeption:

  • Entwicklung eines gefühlten Körperbewusstseins (felt sense), die Erfahrung des Körpers im Hier-und Jetzt ohne Wertung. Das bedeutet im Sinne der Achtsamkeit, wie ich sie verstehe, zuerst Körperempfindungen als Körperempfindungen wahrzunehmen, ohne sie sofort zu interpretieren, zum Beispiel als Emotionen. Dies kann auf lange Sicht ein Gefühl des Friedens mit dem eigenen Körper und des Sich-Zuhause-Fühlens in ihm fördern.

Entscheidungsfindung:

  • Die Möglichkeit Entscheidungen zu treffen, zu erleben. Du wählst deine Bewegungen selbst. Entscheidungen zu treffen, ist anti-Trauma. Für Follower: Beim Tango übernehmen dieses anfangs vielleicht die Haltung, einfach Anweisungen auszuführen. Mit der Erfahrung entwickeln sie jedoch die Fähigkeit, die Vorschläge ihres Partners zu interpretieren, auch Impulse zurück zu geben, was wiederum ein Gefühl von Selbstbestimmung, Kooperation und Verbundenheit fördert.

Effektives Handeln:

  • Die verkörperlichte Erfahrung, dass Entscheidungen und Handlungen Auswirkungen auf die Bewegung (und das Leben) haben, ist ermächtigend, fördert das Selbstvertrauen und kultiviert ein Gefühl der Selbstbestimmung, das durch Traumata oft beeinträchtigt ist. Über die Zeit kann all dies helfen, innere Zustände zu regulieren, was wiederum ein umfassenderes Gefühl der Kontrolle kultivieren kann, das die Einstellung zum Leben im Allgemeinen verändert, wie das Sprichwort sagt: „Das Leben ist nur ein Tango…“

Darüber hinaus ist die Verbindung zu sich selbst die Grundlage für die Verbindung zu anderen, was wiederum die Grundlage für psychische Gesundheit ist, da wir soziale Wesen sind.

An diesem Punkt bist du mit Tango einen Schritt voraus. Eine willkommende Umarmung, in der du dich angenommen und sicher fühlst, kann nicht nur Balsam für die Seele sein, sondern auch eine potenziell korrigierende Erfahrung für Wunden bieten, die durch kleinere oder größere zwischenmenschliche Traumata verursacht wurden.

Jeder Tänzer mag eine einzigartige Perspektive auf das Wesen des Tangos haben. Während es mehrere zentrale Aspekte geben mag, betrachten viele die „echte“ Umarmung als das Wichtigste. Aus psychotherapeutischer und achtsamkeitsbasierter Sicht würde ich es so formulieren: Umarmung bedeutet, dem Gegenüber die bedingungslose eigene Präsenz anzubieten. Ich denke, das spiegelt die Idee wider, die in der berühmten Performance „The Artist is Present“ (Abramovic, 2010, MOMA) inszeniert wurde.

Ein praktischer Kernaspekt der Kunstfertigkeit liegt dann darin, diese Präsenz aufrechtzuerhalten, nachdem man die Technik beherrscht, während man gemeinsam die Musik durch komplexe Bewegungen interpretiert.

Die bedingungslose Präsenz eines anderen Menschen zu spüren kann ein starker Katalysator für Wohlbefinden wenn nicht sogar für Heilung sein. Die bewusste Erfahrung kann negative Denkmuster umgestalten, die durch negative Erlebnisse geformt wurden und unser Weltbild prägen. Jedoch ist es nochmal eine Reise für sich, zu lernen, diese Erfahrungen vollständig zu genießen und von ihnen zu profitieren.

Abrazame Que Ayuda (Umarme mich, es hilft)

Der Einfluss von Berührungen auf die Gesundheit ist ein Thema, das wie man in PubMed, einer medizinischen Datenbank, sieht, erforscht wird. Dabei liegt ein Fokus auf der Wirkung von Berührungen in der Pflege. Eine Metaanalyse, die im Juni 2024 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde, ergab, dass Berührungsinterventionen wie Umarmungen signifikante Vorteile für die körperliche und geistige Gesundheit bieten. Zu diesen Vorteilen gehören die Verringerung von Schmerzen, Angstzuständen, Depressionen und generalisierter Angst.

Es gibt auch „Umarmungstherapie“, damit ist aber gar kein Tango gemeint. Besonders gefallen hat mir der Satz: „Wenn Umarmungstherapie die Vorspeise ist, könnte Kuscheltherapie das Hauptgericht sein.“

Man nimmt an, dass Umarmungen durch die Regulierung von Hormonen wie Oxytocin, Serotonin und Cortisol wirken, was wiederum die Immunfunktion und positive Emotionen stärkt. Studien an Tieren legen nahe, dass anhaltende soziale Berührungen und der damit verbundene Anstieg des Oxytocinspiegels eine Verschiebung von der sympathischen zur parasympathischen Aktivierung bewirken können, was den Blutdruck und die Herzfrequenz senkt.

Der Mensch scheint von Natur aus darauf angelegt zu sein, seine emotionalen Zustände durch soziale Nähe und Interaktion regulieren zu lassen. Soziale Berührung ist dann ein untrügliches Signal der Nähe zu einer anderen Person.

Laut Psychology Today soll die renommierte Familientherapeutin Virginia Satir einmal gesagt haben: „Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag, um zu überleben, acht Umarmungen, um uns zu erhalten, und zwölf Umarmungen, um zu wachsen.“ Studien haben gezeigt, dass die Wirkung umso größer ist, je häufiger eine Berührungsintervention angeboten wird. Eine kurze Umarmung könnte daher noch wirkungsvoller sein als eine Massage, wenn sie häufiger angeboten wird. Eine Studie ergab, dass eine 20-sekündige Umarmung effektiv Stress abbauen kann.

Allerdings würde ich nicht schlussfolgern, dass eine Tanda (eine Folge von Tangostücken) eine Überdosis ist.

In diesem Fall gilt: „Mehr ist mehr“ (Georgette Dee)

https://www.psychologytoday.com/intl/blog/the-asymmetric-brain/202404/the-healing-power-of-touch-new-scientific-insights

Heilung durch Tango?

Kürzlich fand in Berlin die erste Konferenz zu diesem Thema (tango.connects.berlin) statt, bei der verschiedene Aspekte der positiven Auswirkungen von Tango auf das mentale Wohlbefinden erörtert wurden. Viele Tänzer berichten, dass sich ihr psychisches Wohlbefinden im Laufe der Zeit verbessert hat und sie einen Heilungsprozess erleben. Mein erster Tangopartner, mit dem ich drei Jahre lang trainierte, bemerkte einmal, dass zwei Jahre Tanzen einen größeren Einfluss auf sein emotionales Wohlbefinden hatten als die vorherige Psychotherapie.

Aber wie funktioniert das? Was könnte der Mechanismus sein?

Eine Recherche auf PubMed zeigt Studien, die positive Effekte von Tango auf krebsbedingte Müdigkeit und Lebensqualität nahelegen. Es gibt auch Studien, die Vorteile für Parkinson und Demenz (Alzheimer-Krankheit) zeigen, indem sie den Rückgang der funktionellen Mobilität mildern.

Tango ist eine moderate körperliche Aktivität, die Achtsamkeit beinhaltet. Zahlreiche Studien bestätigen die Vorteile beider Aspekte. Achtsamkeitsbasierte Interventionen haben gezeigt, dass diese Grübeln verbessern, Depression reduzieren und Angstzustände verringern. Sie können psychischen Stress, Depressionen und einige Dimensionen des Burnouts effektiv reduzieren. Eine Studie ergab beispielsweise, dass Polizeibeamte fünf Monate nach einem Achtsamkeitstraining weniger Stress, Schlafstörungen, Angstzustände und Burnout empfanden. Eine andere Studie aus dem Jahr 2012 verglich die Auswirkungen des argentinischen Tangos auf Menschen mit Depressionen und Angstzuständen mit Achtsamkeitsmeditation. Sowohl Tango als auch Achtsamkeitsmeditation reduzierten die Symptome signifikant, aber Stresslevel wurden nur in der Tangogruppe reduziert. Darüber hinaus verbesserte das Tangotanzen die Achtsamkeit.

Für Sport im Allgemeinen fand eine Meta-Analyse eine dosisabhängige inverse Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Depression und deutete auf signifikante mentale Gesundheitsvorteile durch körperliche Aktivität hin.

Interozeptive Interventionen, die sich auf Körperbewusstsein konzentrieren, können zur Besserung bei Personen mit Substanzgebrauchsstörungen führen. Die Fähigkeit, interozeptive Signale im Körper genau wahrzunehmen, kann helfen, Emotionen zu regulieren, da körperliche Reaktionen eine Grundlage für wahrgenommene Emotionen bilden. Das Praktizieren von Tango fördert das Körperbewusstsein.

Tango kann jedoch auch negative Auswirkungen haben, wie die Störung des zirkadianen Rhythmus, wenn man nachts zu Milongas geht. Für die meisten psychischen Erkrankungen werden regelmäßige Schlafmuster empfohlen, also … es ist besser, tagsüber zu tanzen 🙂

Workshop: Tanzen zur Musik

Tanzen zur Musik kann rein intuitiv erfolgen, ein paar Kenntisse zu wahrnehmbaren Elementen, ein paar Regeln und ein bewusster Focus bringen jedoch das nächste level.

Deshalb hören wir in jeder Stunde einen Tango und analysieren die Struktur anhand der Phrasen, von denen wir zwei herausgreifen. An diesen  anaysieren wir die prominenten Elemente wie rhythmische Basis, melodische Brücke,  Melodie oder Kontramelodie. Diese Ausschnitte hören wir wiederholt, um Möglichkeiten der Interpretation zu entwickeln. Grundlegende Technik und Bewegungsfolgen für das soziale Tanzen, je nach Fertigkeiten der Teilnehmenden  werden berücksichtigt. 

Für jede Stunde wird ein eher bekannteres Stück ausgewählt, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf der nächsten Milonga zu hören ist. 

Buchtipp

Das inspirierendeste Buch, das ich in circa zehn Jahren gelesen habe. Absolut empfehlenswert. Eine zentrale Aussage besteht darin, dass einzelne Emotionen wie Angst, Scham, Ärger eben keine feste neuro-biologische Repräsentanz aufweisen, sondern in jeder Situation neu unter Beteiligung verschiedener neuronaler Netzwerke konstruiert werden. Dies verstehe ich als eine wissenschaftliche Fundierung konstruktivistischer und hypnosystemischer Beratungsansätze, letztlich auch der buddhistischen Annahme, dass die Welt in der wir leben, jene ist, die wir uns konstruieren. Selbst-Management und persönliches Wachstum in diesem Sinne bedeutet, sich und Anderen Erfahrungen so zu organisieren, das hilfreichere Konstruktionen unserer Emotionalität ermöglicht werden.

Selbstwert kann man lernen wie Mathematik

Zusammenfassung eines Seminars der von der Fachzeitschrift „Rechtsdepesche veranstalteten Winterakademie 2021 zum Thema Selbstwert. Auch hier klingt das Thema soziale Kompetenz an, mit dem Hinweis, dass man die drei Parameter Selbstachtung, Beziehungspflege und Zielerreichung auf der Sachebene mitunter nicht alle unter einen Hut bringen kann, sondern einen opfern muss:

https://www.rechtsdepesche.de/selbstwert-kann-man-lernen-wie-mathematik/